Geister und Tischmanieren: Aberglaube in Japan (2024)

Manchmal fragt man sich, woher eigentlich das menschliche Bedürfnis kommt, sich zu gruseln. In beinahe jeder Kultur gibt es den Brauch, sich gegenseitig unheimliche Geschichten zu erzählen. Im edo-zeitlichen Japan (1603-1868) gab es sogar ein Gesellschaftsspiel, bei dem es nur darum ging. Das Spiel hieß hyaku monogatari („Hundert Geschichten“) und die sogenannten kaidan (Gruselgeschichten), die man sich dabei erzählte, handelten meist von Geistern oder übernatürlichen Geschehnissen.

Geister und Fabelwesen

In der japanischen Mythologie unterscheidet man zwischen yūrei (Totengeistern) und yōkai (Fabelwesen und Dämonen). Die yūrei sind menschenähnliche Gespenster in weißem Gewand, während die yōkai in diverser Gestalt daherkommen. Zu ihnen gehören Tiere und tierähnliche Wesen wie oni (Dämonen) und tengu (vogelähnliche Kobolde mit langer Nase), aber auch tsukumogami (lebendig gewordene Haushaltsgegenstände) und groteske Gestalten wie die rokorokubi (attraktive Frauen, die sich nachts in langhalsige Geister verwandeln).

Vermutlich ist es ein natürliches Anliegen der Menschen, eine Verbindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits herstellen zu wollen. Manchmal steckt vielleicht auch der Wunsch dahinter, geliebte, verstorbene Menschen wiederzutreffen oder eine Erklärung für Krankheit und Tod zu finden. In der Heian-Zeit (794-1185) glaubte man an das Phänomen mononoke, das auch im Genji monogatari („Geschichte vom Prinzen Genji“, entstanden um das Jahr 1008) eindrucksvoll verarbeitet wurde. Dabei handelte es sich zwar auch um geisterhafte Wesen, doch hatten diese eine viel diffusere Form als yūrei und yōkai. Meist waren sie für das menschliche Auge gar nicht sichtbar und dennoch glaubte man beispielsweise daran, dass jemand, der an einer Krankheit litt, von einem solchen Geist oder Dämon besessen war – fast so ähnlich wie man heutzutage manchmal von „inneren Dämonen“ spricht, obwohl dies damals viel ernster genommen wurde als heute.

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Aberglaube im Alltag

Auch im gegenwärtigen Japan sind Geister und Fabelwesen teilweise noch sehr präsent im Alltag und in den Medien. Noch auffälliger allerdings sind bestimmte Verhaltenstabus und Vorstellungen, von denen wir Ihnen im Folgenden einige präsentieren.

Nächtliches Nägelschneiden bringt Unglück

Woher dieser Aberglaube ursprünglich kommt, ist nicht mehr vollständig überliefert, doch es gibt zwei Theorien. Die eine ist schlicht, dass es vor der Einführung von Elektrizität zu Verletzungen kommen konnte, wenn man sich im Dunkeln die Nägel schnitt und deshalb davon abgeraten wurde. Die andere besagt, dass das nächtliche Nägelschneiden (im Japanischen yozume) deshalb ein schlechtes Image hat, weil es so ähnlich klingt wie yo wo tsumeru („die Welt begrenzen“), was so interpretiert wurde, dass sich das eigene Leben verkürze und man früher als seine Eltern sterben würde. Außerdem soll die Nacht generell als spirituell ungünstige Zeit gelten.

Nächtliches Pfeifen lockt Schlangen an

Dieser Aberglaube ist eigentlich Unsinn, da Schlangen keine Ohren haben. Man vermutet, dass „Schlangen“ ursprünglich eine Metapher für den Neid der Nachbarn war, den man auf sich ziehen konnte, wenn man fröhlich pfiff, weil einem etwas Gutes passiert war. Eine andere Theorie ist, dass mit „Schlangen“ eigentlich „böse Geister“ gemeint sind, da das Schriftzeichen für Schlange (蛇) auch ja gelesen werden kann, was so ähnlich klingt wie ja-aku na mono („etwas Böses“). Schlangen selbst sind aber keine Unheilsbringer, denn ein anderer Aberglaube lautet, dass man ein glückliches finanzielles Händchen bekommt, wenn man sich ein Stück Schlangenhaut ins Portemonnaie legt.

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Hüte dich vor der Zahl 4

Ähnlich wie in der chinesischen Kultur gilt die „4“ (四) in Japan als Unglückszahl, da sie shi gelesen werden kann, was genauso klingt wie das japanische Wort für „Tod“ (死). Dies spielt besonders in Krankenhäusern und Altersheimen eine Rolle, wo man dem Tod sehr nahe kommen kann. Meist gibt es dort keinen vierten Stock. Auch in Hotels werden Zimmernummern, welche diese Zahl beinhalten, eher gemieden und als Hausnummer ist sie ebenfalls unbeliebt. Bestattungsunternehmen dagegen verwenden schon einmal absichtlich die Zahlenfolge „4444“ am Schluss ihrer Telefonnummer, damit jeder gleich Bescheid weiß, worum es geht. Neben der „4“ ist übrigens auch die „9“ (九) in Japan eine Unglückszahl, da sie ausgesprochen wird wie ku (苦, Leid oder Schmerz).

Kein Essen von Stäbchen zu Stäbchen reichen

Dies soll man deshalb vermeiden, weil bei Trauerfeiern die Knochen des Verstorbenen auf diese Weise in die Urne gelegt werden. Nach der Einäscherung versammeln sich die Familienmitglieder und reichen sich die Knochen nacheinander mit Stäbchen, bis sie beim letzten in der Reihe angelangt sind, der schließlich die Knochen in die Urne legt. Sich Essen auf diese Weise zuzureichen, wird mit diesem Bestattungsritual assoziiert und gilt daher als grober Verstoß gegen die Tischmanieren. Genauso unangemessen ist es übrigens, seine beiden Stäbchen aufrecht in den Reis zu stecken, da dies ebenfalls an Trauerfeiern erinnert. Als Opfergabe wird dabei eine zuvor vom Verstorbenen verwendete Schale mit Reis gefüllt und zwei Stäbchen auf diese Weise hineingesteckt. Sicherlich möchte niemand beim Essen an Bestattungszeremonien erinnert werden, weshalb diese Verhaltensregeln schon Kindern eingeschärft werden.

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Quellen:

Iwasa, Michiko und Barre Toelken: Ghosts and the Japanese: Cultural Experience in Japanese Death Legends. University Press of Colorado; Utah State University Press, 1994.

Toshimaro, Ama: Warum sind Japaner areligiös? Iudicum Verlag, 2004 (aus dem Japanischen von Hans Peter Liederbach)

Vu Huong Giang: Nihonjin no meishin ni tsuite no kenkyū [Forschung über den japanischen Aberglauben]. In: Nihon bunka kenkyūshū puroguramukenshū repōtoshū [Artikelsammlung des Studienprogramms zur Erforschung der japanischen Kultur], Nr. 30. International Center of Hiroshima University (30.10.2015).

Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe des JAPANDIGEST 2021. Er wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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